Bieler Lauftage | 100km und ein Drama in drei Liedern

 

«Die Nacht der Nächte» wird Biel in Läuferkreisen oft genannt. Die Nacht der Nächte war es auch für mich. Geplant hatte ich so um die 9h 30min zu laufen, was einer Pace von 5:40 min/km entspricht. Nun weiss ich: planen kann man viel, aber keinen 100km-Lauf. Ich war so ziemlich auf alles vorbereitet, nur nicht auf das, was dann tatsächlich passieren sollte.

Aber von Anfang an...

Ich hatte mir den Freitag frei genommen und konnte zwischen zwei grossen Portionen Pasta auch gut eine Stunde Mittagsschlaf halten. Den ganzen Nachmittag und Abend war ich aber unglaublich nervös. Ich hatte einen ungeheuren Respekt vor der Aufgabe – alles andere wäre vermutlich aber auch einfach Naiv. Ich kam aber gut in Biel an und freute mich, dass ich nach monatelangem Training endlich losgehen konnte. Mit Trainingsläufen über 40, 45, 50 und 60 Kilometer wähnte ich mich gut gerüstet.

Vor dem Start liefen die «Toten Hosen» deren Song «Tage wie diese», wenn man die richtigen Textpassagen herbeizieht, wie für diesen Anlass geschaffen ist. Und das ganze Starterfeld sang mit:

Durch das Gedränge, der Menschenmenge,
bahnen wir uns den altbekannten Weg
Wo alles laut ist, wo alle drauf sind, um durchzudreh’n
Wo die andern warten, um mit uns zu starten, und abzugeh’n

Das hier ist ewig, ewig für heute
Wir steh’n nicht still für eine ganze Nacht

An Tagen wie diesen, haben wir noch ewig Zeit
In dieser Nacht der Nächte, die uns so viel verspricht
Erleben wir das Beste, kein Ende in Sicht

Gänsehaut pur!

Leider war die Euphorie, zumindest meine, relativ bald vorbei. Meine Beine schmerzten schon früh im Rennen. Viel zu früh. Also eigentlich von Anfang an. Und so kam ich bereits nach rund 8 Kilometer kaum den Hügel in Richtung Bellmund hoch.
Und ich erinnerte mich an die Toten Hosen: «…kein Ende in Sicht!»

Das Flache Stück zwischen Bellmund und Lyss (KM-21) lief zum Glück etwas besser. Und auch der zweite und vermutlich grösste Anstieg des Rennens, der kurz nach Lyss folgt, ging gar nicht so schlecht.
Auf dem darauffolgenden Flachstück via Balm nach Oberramsern fing aber bereits die grosse Krise an:
Meine Fussgelenke taten weh, meine Knie, und ein stechender Schmerz vom Po über die hinteren Oberschenkel bis in die Kniekehlen. Ich weiss bis heute nicht warum, solcherlei Probleme waren mir völlig neu. Und Distanzen bis und mit Marathon war ich mir dank der guten Vorbereitung eigentlich gewohnt. War es die nächtliche Zeit wo mein Körper eigentlich nach Ruhe verlangt? Ich weiss es nicht.
Was ich aber weiss: ich musste bereits nach 38km gehen. Und ich ging viel. Sehr viel!
«…kein Ende in Sicht»

Beim Verpflegungsposten in Etzelkofen (KM-43.5) wollte ich das Rennen aufgeben, es war einfach nicht mein Tag. Es war aussichtslos.
«…kein Ende in Sicht»

Äusserst charmant wurde mir von einem Helfer an jener Labesstation aber mitgeteilt:
«Grundsätzlich kannst du den Lauf überall abbrechen. Ich weiss aber auch nicht, wie du von hier zurück nach Biel kommst. Einen Shuttelbus-Service gibt es erst in Kirchberg, bei KM-56!!» Na toll!
So machte mich also auf, bis KM-56 zu wandern. Laufen ging nicht. Rechnen allerdings schon, und so realisierte ich, dass ich wohl noch gut 2h brauchen würde.
«…kein Ende in Sicht»
Zwei Stunden? Bitte nicht! Ich versuchte also erneut zu joggen. Es ging nicht! Beim nächsten Versuch ein wenig zu laufen - ich hatte mittlerweile so um die 48km geschafft und dabei rund 10km grösstenteils gehend zurückgelegt - packte ich meine Kopfhörer aus. Ich bin zwar ein grosser Musikfan, laufe aber äusserst selten mit Musik. Als «Geheimwaffe für grössere und kleinere Krisen» hatte ich aber für meinen ersten Hunderter meine Airpods eingepackt. Und was ich gerade erlebte war sozusagen die Mutter aller Krisen - also, wenn jetzt nicht, wann dann?

Was nun folgte war - ich kann es nicht anders sagen - pure Magie!

Das erste Lied, dass der Zufallsgenerator meiner extra für diesen Lauf angelegten Playliste ausspuckte war «Hey Road» von «Russkaja». Die Band spielte letzten Sommer an den Musikfestwochen in Winterthur und macht eine äusserst fröhliche Mischung aus Multikulti-Ska-Rock-Trashpolka (ich weiss auch nicht wie das heisst). Auf jeden Fall richtig fröhlich, tanzbar und das Lied beginnt mit:

Hey road, calling me
Tell me what you've got today for me to see
Anybody ever heard about this feeling
Seems like they're running from the pain
You're running and running and running and running
You run run run away

Gesagt, getan: Vom ersten Ton an lief ich. Und ich war Glücklich. Und ich tanzte! Es war wie im Traum. Nur ich, die Musik und die dunkle Nacht. Einfach wow!

Alle Schmerzen waren wie weggeblasen.
«…running from the pain»

Nicht eine Sekunde habe ich noch ans aufgeben gedacht. Auchbei besagtem Posten in Kirchberg lief ich nach kurzem verpflegen einfach durch. Und so ich lief die nächsten Kilometer relativ konstant und ohne Pause. Und eigentlich viel zu schnell! Es war Grossartig! Ich überholte dutzende Läufer und Läuferinnen.
Nie - wirklich NIE - hätte ich für möglich gehalten, was hier gerade mit mir abging.
Was für ein Comeback! Was so ein bisschen Musik alles ausmachen kann?
«…running and running and running and running, you run run run away!»

Auf dem berühmt berüchtigten Emmendamm, unter Biel-Veteranen auch als Ho-Chi-Ming-Pfad bekannt (er erstreckt sich grob gesagt zwischen Kilometer 60 und 70) hatte ich noch immer beste Laune. Auf meinen Airpods lief inzwischen die Deutschrockband «Dritte Wahl» mit dem Lied «Deine Zeit». Und dieses Stück wird mich für immer an diese Nacht erinnern:

              Es ist ein Wettlauf, den man nicht gewinnen kann
              Man läuft und läuft, und doch verliert man irgendwann
              Es wird ganz still und man hört nur,
              das leise ticken meiner Uhr
              Das ist deine Zeit, die hier vorüber geht
              Für deine Träume ist es irgendwann zu spät
              Das ist deine Zeit, sie ist alles was dir bleibt
              Und die Frage wäre dann,
              was fängst du damit an

Und so lief ich, und lief. Körperlich ging es langsam abwärts, aber mental war ich noch immer im Höhenflug. Selbst den vierten grösseren Anstieg, der kurz nach Bibern und ungefähr bei Kilometer 80 ansteht, habe ich gut verkraftet. Und bergab laufe ich sowieso ganz gerne.
Unten angekommen, irgendwo bei Kilometer 85, war dann zwar die Strecke flach, dafür ging es mit mir bergab. Da war sie also, die Krise, die man auf einem 100km-Lauf eigentlich fest einkalkuliert.
«..und die Frage wäre dann, was fängst du damit an»

Es wahr nur noch eine Qual. Es war mir sooooo schlecht. Und alles tat weh. Ich ging und lief nur noch im Wechsel, zum Schluss waren die Lauf-Phasen keine 400m mehr lang. Und auch der Trick mit der Musik funktionierte kein zweites Mal – schade.
Mental war das aber überhaupt kein Problem, längst war ich mir sicher, dass ich – früher oder später - das Ziel sehen werde. Die Schmerzen, die Übelkeit, ich nahm es mit Humor. War ich nicht auch ein bisschen deswegen hierhergekommen? Das hast du nun davon! 😊

Die letzten fünf Kilometer war ich einfach nur durchströmt von Stolz. Ich weinte. Ich war glücklich! Mir war noch immer kotzübel und alles schmerzte wie die Hölle, aber das tat dem Glück keinen Abbruch. Körperlich am Boden, geistig im siebten Himmel.
«..und die Frage wäre dann, was fängst du damit an»

 

Den Zieldurchlauf - ihr könnt es euch vorstellen - war sehr emotional.

Wo alles laut ist, wo alle drauf sind, um durchzudreh’n
Wo die andern warten, um abzugeh’n

An Tagen wie diesen…

Ich war überwältigt!

Die Nacht der Nächte
Ich werde diese Momente nie vergessen.
Es war ein unglaubliches, tief bewegendes Erlebnis, dass mich mit Sicherheit für immer prägen wird. Das ich meine sportlichen Ziele weit verfehlt habe ist dabei völlig irrelevant. Ich bin sehr, sehr glücklich mit dem Lauf, genauso wie er war.

Biel war und ist ein Traum.
Ich kann es einfach nur empfehlen, für jedes Leistungsniveau, für jedermann!

Geheimtip: nehmt Köpfhörer mit!  wink

 

Last but not least
Vielen Dank an alle, die mich auf diesem Weg, mit rund 2’000 Trainingskilometern seit Januar, begleitet haben. Und ein riesen grosses Dankeschön an all’ die Freiwilligen Helferinnen und Helfer, die die ganze Nacht an den Verpflegungsposten stehen und die Strecke absichern. Und ebenfalls ein grosses Dankeschön alle Zuschauer, die den Läuferinnen und Läufern dieser Strecke tiefen, ehrlichen Respekt entgegenbringen und diese Nacht für uns damit so unvergesslich machen.
Ich war noch nie von einem Lauf, der Organisation und dem ganzen drumherum derart beeindruckt - ganz unabhängig meiner eigenen Leistung. Und das alles ganz ohne Firlefanz und Rahmenprogramm. Biel lebt von Tradition und Respekt. Danke dafür!

Links zu den erwähnten Songs